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Romain Rolland Cover 1914-18

Romain Rolland. Der Erste Weltkrieg aus Sicht eines Pazifisten

Aus den Tagebucheinträgen 1914 - 1919

mit einem Vorwort von Albert Schweitzer


Hrsg:Gutsche, Angelika

2021 Westarp BookOnDemand
298 Seiten, broschiert
ISBN: 978-3-96004-104-7
18,95 €

Romain Rolland, Pazifist und Nobelpreisträger für Literatur, veröffentlichte 1954/55 seine erschütternden Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren des Ersten Weltkrieges. Sie umfassen Berichte über Treffen  mit europäischen Geistesgrößen, Politikern und Künstlern sowie  umfangreiche Korrespondenz mit Zeitgenossen wie Albert Einstein, Stefan Zweig und Hermann Hesse.

Rolland nannte sein Tagebuch “Geschichte der  europäischen Seele während des Völkerkrieges" und Albert Schweitzer  bezeichnete es als "die geistige Geschichte des Krieges von 1914". Die  Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum von 1914 bis 1919 und dokumentieren nicht nur den Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines  Pazifisten, der an seiner Zeit fast verzweifelt, sondern auch die  damalige geistige Verfasstheit der Völker und ihrer Menschen. 

Briefwechsel mit Geistesgrößen, der Austausch mit Wissenschaftlern,  Künstlern, Schriftstellern, Politikern und Redakteuren, aber auch mit Soldaten und einfachen Leuten, finden Eingang in Rollands Schriften. Viele Konflikte der damaligen Zeit sind noch heute virulent und die Aussagen Rollands überraschend aktuell.


Die Herausgeberin Angelika Gutsche wurde auf einer Burgund-Reise, bei der sie auch das Wohnhaus von Romain Rolland in Vézelay besuchte, auf das Werk des fast vergessenen Literaturnobelpreisträgers, insbesondere seine Tagebuchaufzeichnungen und Friedensschriften, aufmerksam.

Zur Einführung

Die Tagebuchaufzeichnungen von Romain Rolland beginnen am 31. Juli 1914 mit den Worten: „Die Luft ist köstlich, Glyzinienduft erfüllt die Nacht, und die Sterne leuchten in so reinem Glanz! In diesem göttlichen Frieden, inmitten dieser lieblichen Schönheit beginnen die Völker Europas das große Morden.“

Fünf Jahre später, am 23. Juni 1919, endet sein Kriegstagebuch. Die letzten Sätze lauten: „Der Friedensvertrag wird unterzeichnet. – Die Kanonen begrüßen die Unterzeichnung mit Salven, sie feuern jeweils zwanzig Schüsse ab. Trauriger Friede. Lächerliche Pause zwischen zwei Völkergemetzel! Aber wer denkt an morgen?“

Der Erste Weltkrieg hinterlässt einen illusionslosen Rolland, der sich über die zukünftig bevorstehenden Gewaltakte zwischen den Nationalstaaten keiner Illusion hingibt. Sein Fazit: Die Menschheit ist nicht reif.

Der Franzose Rolland Romain wurde am 29. Januar 1866 in Clamency geboren und starb am 30. Dezember 1944 in der burgundischen Stadt Vézelay. Der Nobelpreis wurde ihm 1915 für seinen zehnbändigen Roman Jean Christoph zuerkannt. Das Preisgeld spendete er dem Roten Kreuz. Neben der Schriftstellerei betätigte er sich als Musikkritiker und Biograph. 1923, nachdem er Gandhi persönlich aufgesucht hatte, schrieb er seine Gandhi-Biographie. Der Pazifist Rolland hatte sein Leben der Friedens- und Völkerverständigung gewidmet.

1914, kurz nach Kriegsausbruch, veröffentlichte Rolland seinen berühmten Antikriegsappell Au-dessus de la mêlée (Über den Schlachten), „eine Anklage gegen die verbrecherischen Anstifter dieses Krieges und ein Aufruf zur Vereinigung der europäischen Geister“. Die darauf folgenden Anfeindungen waren gewaltig. Rolland kehrte nach einem Urlaub in der Schweiz nicht nach Frankreich zurück.

Er schrieb stattdessen gegen all diejenigen an, die den Hass auf die jeweils gegnerische Kriegspartei schürten und zum Krieg hetzten. In seinen Tagebüchern heißt es: „Es ist schrecklich, inmitten dieser geistesgestörten Menschheit leben und ohnmächtig dem Bankrott dieser Zivilisation beiwohnen zu müssen. Dieser europäische Krieg ist seit Jahrhunderten die größte Katastrophe der Geschichte, das Ende der heiligsten Hoffnungen, die wir in die humane Zusammengehörigkeit der Menschen gesetzt haben“. Und er geißelt den Willen zur Macht: „Dieses Monstrum mit hundert Köpfen nennt sich Imperialismus. Es ist dieser ehrgeizige Wille zur Herrschaft, der alles aufsaugen, sich unterwerfen oder zerbrechen will und keine freiheitliche Macht neben sich selbst duldet.“

Roland nennt sein Tagebuch „Geschichte der europäischen Seele während des Völkerkrieges“ und Albert Schweitzer bezeichnet es als „die geistige Geschichte des Krieges von 1914“. Rollands Tagebücher dokumentieren nicht nur den Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines Pazifisten, sondern auch die geistige Verfasstheit dieser Zeit. Briefwechsel mit damaligen Geistesgrößen wie Albert Einstein, Stefan Zweig und Hermann Hesse, der intellektuelle Austausch mit Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern, Politikern und Redakteuren, aber auch mit Soldaten und einfachen Leuten finden Eingang in seine Schriften. Und immer wieder ist der Disput mit Kriegsbefürwortern wichtiges Thema.

So schafft Rolland ein Stimmungsbild, das besser als jedes Geschichtsbuch den Zugang zu der Zeit des Ersten Weltkrieges öffnet.

Dieses Antikriegstagebuch und einzigartige Zeitdokument stellt eine emotionale Nähe zu den Schrecken des Ersten Weltkriegs her, ermöglicht das Miterleben dieser Zeit, jenseits der militärischen Schlachten. Rolland beschreibt, wie ihn die Positionen der Sozialisten und der Christen zutiefst enttäuschen, wie er – ein großer Bewunderer Tolstois – als Zeitzeuge die Vorgänge in Russland zur Zeit der Revolution mit Spannung verfolgt, wie er sich über das brutale Vorgehen gegen den Spartakusaufstand und die Räterepubliken empört. Er ordnet die Politik Frankreichs, Großbritanniens, Englands, Russlands, Italiens, Deutschlands und Österreichs genauso ein wie die Politik der USA oder Japans und kommentiert den Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland und Österreich. Nie ist Rolland nur passiver Beobachter, sondern stets nimmt er Stellung für eine Friedenslösung, für Völkerverständigung, für Menschlichkeit, was ihm in Frankreich ebenso wie in Deutschland vor allem Feindschaft einbringt.

Während des Kriegs verfemt und verleugnet, fand Rollands Idee eines „Tribunal des Gewissens“ im späteren Völkerbund ihren Niederschlag.

Es wird den heutigen Leser erstaunen, wie viele Konflikte der damaligen Zeit noch heute virulent sind und welche Aktualität manche Aussagen Rollands noch immer haben.

Angelika Gutsche, August 2021

Mein Weg zu Rolland Romain

Das Werk von Romain Rolland – eine fortwährende Quelle der Inspiration im Engagement für Frieden und Völkerverständigung.

Im Rahmen einer Burgund-Rundreise besuchten wir eine der schönsten Ortschaften Frankreichs, den Wallfahrtsort Véselay, in dem sich neben einer beeindruckenden frühgotischen Basilika auch das Musée Zervos befindet. Dieses Museum, das unter anderen Werke von Picasso, Kandinsky und Miró beherbergt, ist im ehemaligen Wohnhaus von Romain Rolland untergebracht, dessen Möbel hier noch ausgestellt sind.

Tatsächlich hatte ich mich noch nie mit dem Literaturnobelpreisträger, Gandhi-Biografen, Musikkritiker, Tierschützer und leidenschaftlichen Pazifisten Rolland beschäftigt, doch sprach mich augenblicklich seine, einem Reiseführer entnommene Kurzbiographie an. Insbesondere sein Engagement für Frieden und Völkerverständigung weckten mein Interesse.

Selbst in der Friedensbewegung der 1980er Jahre engagiert, hatte ich 1981 mit 300.000 anderen in Bonn gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss und gegen die Stationierung von auf Moskau gerichtete Pershing-II-Raketen demonstriert. Die Parolen der Studentenbewegung „Nie wieder Krieg“ und die Proteste gegen den Vietnam-Krieg begleiteten meine Teenagerzeit, die Schule sensibilisierte für die Schrecken des Holocausts und die Wahrnehmung von Rassismus. Und so fand ich den unmittelbaren Zugang zu Rollands Aussagen, auch wenn sich diese auf den Ersten Weltkrieg bezogen: „Es ist schrecklich, inmitten dieser geistesgestörten Menschheit leben und ohnmächtig dem Bankrott dieser Zivilisation beiwohnen zu müssen. Dieser europäische Krieg ist seit Jahrhunderten die größte Katastrophe der Geschichte, das Ende der heiligsten Hoffnungen, die wir in die humane Zusammengehörigkeit der Menschen gesetzt haben.“ Ich wusste, es war noch schlimmer gekommen, es hatte einen Zweiten Weltkrieg gegeben.

Als 1955 Geborene war ich zwar nicht mehr direkt betroffen, doch hatten die Schrecken des Zweiten Weltkriegs immer noch starke Auswirkungen auf unsere Familie. Ich wuchs praktisch nur unter Frauen auf, Omas und Tanten, deren Männer im Krieg geblieben waren. Noch manche Erzählung über Hungersnöte und in Luftschutzbunkern verbrachte Nächte, ausgebombte Wohnungen, Evakuierungen aufs Land und toten Angehörigen begleiteten meine Kindheit. Die Besuche eines Onkels, der ein Bein in Russland gelassen hatte und nun mit einer Prothese versehen, an Leib und Seele verletzt, verdüsterten durch sein Leiden und seine Verbitterung stets die Stimmung im ganzen Haus. Und es gab noch einen bösartigen Großvater, der, ebenfalls vom Krieg schwer gezeichnet, uns Kinder beschimpfte und mit seinem Hacklstecken, wie wir Kinder seine Krücke nannten, drohte, wenn wir nur einmal unserer Fröhlichkeit freie Bahn ließen.

Meinem Vater, der bei Kriegsende gerade mal ein Schulbub war, hatte das Hantieren mit einem Granatenblindgänger fast das Leben gekostet – schlimme Narben auf seiner Kopfhaut blieben als lebenslange Erinnerung. Einer seiner Freunde hatte das leichtsinnige Spiel mit der tödlichen Waffe nicht überlebt.

Die Erkenntnis, dass Krieg eines der schlimmsten Übel dieser Welt ist, muss damals in mir Wurzel gefasst haben. Auch kamen mir die Russen, die als der große Feind präsentiert wurden, gar nicht so furchteinflößend vor. Erzählte meine Großmutter doch immer wieder die Geschichte von den russischen Kriegsgefangenen, die in unserem Viertel Zwangsarbeit leisten mussten, und die nach ihrer Befreiung zu uns in den Hinterhof kamen, um meinem Großvater einen Ballen Tabak, den sie in der Tabakfabrik geplündert hatten, zu schenken, zum Dank dafür, dass er ihnen ab und zu heimlich Brot zugesteckt hatte. Tabak war bei Kriegsende nicht nur zum Rauchen da, sondern allgemein anerkanntes Zahlungsmittel bei Tauschgeschäften. Russen hatten bei Kriegsende zu unserem Überleben in München beigetragen. So ist das, wenn Menschlichkeit die Oberhand gewinnt.

Kein Wunder also, dass Romain Rollands Werk mein Interesse weckte, und ich, vom Burgund-Urlaub zurückgekehrt, zunächst seine Antikriegsschrift „Über den Schlachten“ lesen wollte, dann aber feststellen musste, dass diese in unserer Stadtbibliothek nicht auffindbar war. Als Ersatz bestellte ich den ersten Band von Rollands Kriegstagebüchern. Dessen Umfang – tausend kleingedruckte Seiten – verunsicherte mich zunächst. Ich begann trotzdem zu lesen und wurde zunehmend in die Zeit des Ersten Weltkrieges hineingesogen. Die Schriften fesselten mich. Auf meinem Blog auf Freitag.de zitierte ich einzelne Passagen. Das war bald nicht mehr genug angesichts der vielen Stellen, die meine besondere Aufmerksam erregten. Antiquarisch bestellte ich beide Bände der Kriegstagebücher, um sie am Rande mit Anmerkungen versehen zu können.

Während der Lektüre seines Tagebuchs zog mich der Künstler, Intellektuelle und Mensch Romain Rolland immer mehr in seinen Bann, mit seinen politischen Betrachtungen und Einschätzungen, seinen Lebenskrisen und Selbstreflexionen, seiner engen Verbundenheit mit allen Lebewesen dieser Erde, seinen Freundschaften, die Menschen aus vielen Ländern und Kontinenten umspannten, seinen umfangreichen Briefwechseln. Der Erste Weltkrieg, nicht dargestellt als eine Abfolge politischer Entscheidungen und militärischer Kampfhandlungen, sondern von der emotionalen Warte eines überzeugten Pazifisten und Humanisten aus betrachtet, der entsetzt auf das Schlachtengetümmel blickte.

Bei einer Gesamtdurchsicht meiner Anmerkungen fiel die Aktualität ins Auge, die in mannigfachen Bereichen einen Bogen zu den heutigen Zeiten schlägt. Es erwachte in mir der Wunsch, diese durch die Schriften von Romain Rolland erfahrbar gemachten Schrecken des Ersten Weltkriegs auch anderen Menschen in einer gekürzten Form zugänglich zu machen.

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