Mein Weg zu Rolland Romain
Das Werk von Romain Rolland – eine fortwährende Quelle der Inspiration im Engagement für Frieden und Völkerverständigung.
Im Rahmen einer Burgund-Rundreise besuchten wir eine der schönsten Ortschaften Frankreichs, den Wallfahrtsort Véselay, in dem sich neben einer beeindruckenden frühgotischen Basilika auch das Musée Zervos befindet. Dieses Museum, das unter anderen Werke von Picasso, Kandinsky und Miró beherbergt, ist im ehemaligen Wohnhaus von Romain Rolland untergebracht, dessen Möbel hier noch ausgestellt sind.
Tatsächlich hatte ich mich noch nie mit dem Literaturnobelpreisträger, Gandhi-Biografen, Musikkritiker, Tierschützer und leidenschaftlichen Pazifisten Rolland beschäftigt, doch sprach mich augenblicklich seine, einem Reiseführer entnommene Kurzbiographie an. Insbesondere sein Engagement für Frieden und Völkerverständigung weckten mein Interesse.
Selbst in der Friedensbewegung der 1980er Jahre engagiert, hatte ich 1981 mit 300.000 anderen in Bonn gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss und gegen die Stationierung von auf Moskau gerichtete Pershing-II-Raketen demonstriert. Die Parolen der Studentenbewegung „Nie wieder Krieg“ und die Proteste gegen den Vietnam-Krieg begleiteten meine Teenagerzeit, die Schule sensibilisierte für die Schrecken des Holocausts und die Wahrnehmung von Rassismus. Und so fand ich den unmittelbaren Zugang zu Rollands Aussagen, auch wenn sich diese auf den Ersten Weltkrieg bezogen: „Es ist schrecklich, inmitten dieser geistesgestörten Menschheit leben und ohnmächtig dem Bankrott dieser Zivilisation beiwohnen zu müssen. Dieser europäische Krieg ist seit Jahrhunderten die größte Katastrophe der Geschichte, das Ende der heiligsten Hoffnungen, die wir in die humane Zusammengehörigkeit der Menschen gesetzt haben.“ Ich wusste, es war noch schlimmer gekommen, es hatte einen Zweiten Weltkrieg gegeben.
Als 1955 Geborene war ich zwar nicht mehr direkt betroffen, doch hatten die Schrecken des Zweiten Weltkriegs immer noch starke Auswirkungen auf unsere Familie. Ich wuchs praktisch nur unter Frauen auf, Omas und Tanten, deren Männer im Krieg geblieben waren. Noch manche Erzählung über Hungersnöte und in Luftschutzbunkern verbrachte Nächte, ausgebombte Wohnungen, Evakuierungen aufs Land und toten Angehörigen begleiteten meine Kindheit. Die Besuche eines Onkels, der ein Bein in Russland gelassen hatte und nun mit einer Prothese versehen, an Leib und Seele verletzt, verdüsterten durch sein Leiden und seine Verbitterung stets die Stimmung im ganzen Haus. Und es gab noch einen bösartigen Großvater, der, ebenfalls vom Krieg schwer gezeichnet, uns Kinder beschimpfte und mit seinem Hacklstecken, wie wir Kinder seine Krücke nannten, drohte, wenn wir nur einmal unserer Fröhlichkeit freie Bahn ließen.
Meinem Vater, der bei Kriegsende gerade mal ein Schulbub war, hatte das Hantieren mit einem Granatenblindgänger fast das Leben gekostet – schlimme Narben auf seiner Kopfhaut blieben als lebenslange Erinnerung. Einer seiner Freunde hatte das leichtsinnige Spiel mit der tödlichen Waffe nicht überlebt.
Die Erkenntnis, dass Krieg eines der schlimmsten Übel dieser Welt ist, muss damals in mir Wurzel gefasst haben. Auch kamen mir die Russen, die als der große Feind präsentiert wurden, gar nicht so furchteinflößend vor. Erzählte meine Großmutter doch immer wieder die Geschichte von den russischen Kriegsgefangenen, die in unserem Viertel Zwangsarbeit leisten mussten, und die nach ihrer Befreiung zu uns in den Hinterhof kamen, um meinem Großvater einen Ballen Tabak, den sie in der Tabakfabrik geplündert hatten, zu schenken, zum Dank dafür, dass er ihnen ab und zu heimlich Brot zugesteckt hatte. Tabak war bei Kriegsende nicht nur zum Rauchen da, sondern allgemein anerkanntes Zahlungsmittel bei Tauschgeschäften. Russen hatten bei Kriegsende zu unserem Überleben in München beigetragen. So ist das, wenn Menschlichkeit die Oberhand gewinnt.
Kein Wunder also, dass Romain Rollands Werk mein Interesse weckte, und ich, vom Burgund-Urlaub zurückgekehrt, zunächst seine Antikriegsschrift „Über den Schlachten“ lesen wollte, dann aber feststellen musste, dass diese in unserer Stadtbibliothek nicht auffindbar war. Als Ersatz bestellte ich den ersten Band von Rollands Kriegstagebüchern. Dessen Umfang – tausend kleingedruckte Seiten – verunsicherte mich zunächst. Ich begann trotzdem zu lesen und wurde zunehmend in die Zeit des Ersten Weltkrieges hineingesogen. Die Schriften fesselten mich. Auf meinem Blog auf Freitag.de zitierte ich einzelne Passagen. Das war bald nicht mehr genug angesichts der vielen Stellen, die meine besondere Aufmerksam erregten. Antiquarisch bestellte ich beide Bände der Kriegstagebücher, um sie am Rande mit Anmerkungen versehen zu können.
Während der Lektüre seines Tagebuchs zog mich der Künstler, Intellektuelle und Mensch Romain Rolland immer mehr in seinen Bann, mit seinen politischen Betrachtungen und Einschätzungen, seinen Lebenskrisen und Selbstreflexionen, seiner engen Verbundenheit mit allen Lebewesen dieser Erde, seinen Freundschaften, die Menschen aus vielen Ländern und Kontinenten umspannten, seinen umfangreichen Briefwechseln. Der Erste Weltkrieg, nicht dargestellt als eine Abfolge politischer Entscheidungen und militärischer Kampfhandlungen, sondern von der emotionalen Warte eines überzeugten Pazifisten und Humanisten aus betrachtet, der entsetzt auf das Schlachtengetümmel blickte.
Bei einer Gesamtdurchsicht meiner Anmerkungen fiel die Aktualität ins Auge, die in mannigfachen Bereichen einen Bogen zu den heutigen Zeiten schlägt. Es erwachte in mir der Wunsch, diese durch die Schriften von Romain Rolland erfahrbar gemachten Schrecken des Ersten Weltkriegs auch anderen Menschen in einer gekürzten Form zugänglich zu machen.
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