Erst um 18.30 Uhr kommen wir von Bord. Die Uhren müssen um zwei Stunden zurück gestellt werden: eine für die Fahrt nach Osten und eine, weil Marokko keine Sommerzeit hat. Die Zollabfertigung ist total chaotisch. Irgendwie wedeln und winken dutzende von Leuten, wobei für uns völlig undurchschaubar ist, wer hier offiziell angestellt ist und wer sich nur mit Touristen etwas hinzu verdienen will, ebenso unklar bleibt, warum jetzt jemand mit unseren Papieren irgendwohin verschwindet und warum wir welche Beträge an wen zahlen sollen. Egal, endlich haben wir unsere Stempel und sind draußen.
Wir hängen uns an unsere neuen italienischen Freunde, die sich schon auf dem Schiff unter den marokkanischen Mitreisenden ein Hotel in Tanger erfragt haben: gleich nach der Hafenausfahrt geht es rechts eine kleine Straße hinauf zum Hotel Royal. Es handelt sich um ein komplett neu renoviertes Haus, dessen Zimmer sich über vier Stockwerke um einen hübsch gekachelten, arabischen Innenhof gruppieren. Die Zimmer sind einfach und sauber und verfügen über angenehme Badezimmer.
Auf Anraten haben wir das voll gepackte Auto nach der Hafenausfahrt ca. hundert Meter links auf einem Parkplatz hinter dem Gebäude der Prefecturede Police de Tanger 1° Arrondissement geparkt, der auch nachts bewacht ist.
Als wir Essen gehen, erstaunen uns die vielen Menschen, die entlang des Boulevard Mohammed V. flanieren. Der Boulevard wurde nach dem Großvater des heutigen Königs benannt, der 1957 zum König proklamiert wurde, nachdem auch Frankreich im Jahre 1956 die Unabhängigkeit Marokkos anerkannt hatte. Morgen ist der 1. Mai, ein Feiertag, der auch hier in Marokko groß begangen wird. Nur wenige Männer sind in Dschelabas gehüllt, die meisten tragen westliche Kleidung, dagegen ist der überwiegende Teil der Frauen traditionell gekleidet, viele tragen Kopftücher, einige wenige auch den Gesichtsschleier.
Wir entscheiden uns unter den vielen in der Nähe des Hotels gelegenen Restaurants für eines am großen Boulevard, das mit einer ausgezeichneten Lamm-Gemüse-Tashine aufwartet. Bei einer Flasche guten marokkanischen Weins – den gibt es in der höheren Gastronomie – stoßen wir auf unsere Ankunft in Marokko an.
Auch das Frühstück am nächsten Morgen in einem Café unten am Hafen mit Café au lait, Croissants und frisch gepressten Orangensaft bestätigt uns in der Meinung, dass es sich aus kulinarischer Sicht in Marokko gut leben lässt.
Die Altstadt von Tanger zieht sich über dem Hafen den Hügel hinauf. Die Stadt blickt auf eine über dreitausend Jahre alte Geschichte zurück. Vermutlich erfolgte die Stadtgründung durch die Phönizier, bevor hier die Karthager zu Hause waren. Anschließend wurde die Stadt römische Provinz, bis sie im 5. Jahrhundert von den Vandalen erobert und im darauf folgenden Jahrhundert ein Teil des Byzantinischen Reiches wurde.
Die Truppen des Islam eroberten Tanger 705. Im Laufe der anschließenden Geschichte war es einmal portugiesisch, dann spanisch, dann wieder portugiesisch, bevor es englisch wurde und schließlich 1684 unter die Herrschaft eines Sultans fiel. Frankreich zeigte im 19. Jahrhundert großes koloniales Interesse, doch blieb Tanger eine wichtige Handelsstadt Marokkos, in der alle bedeutenden europäischen Großmächte Vertretungen unterhielten. 1905 besuchte Kaiser Wilhelm I. Tanger, um die deutsche Vormachtstellung gegenüber Frankreich zu bekräftigen. 1923 schuf man hier eine internationale, entmilitarisierte Zone. Tangerblieb bis zur Unabhängigkeit Marokkos im Jahre 1956 Freihandelsplatz.
Unser Weg führt uns vorbei an der Großen Moschee aus dem 17. Jahrhundert, hinauf zum inmitten der Medina gelegenen Petit Socco , dem kleinen Markt, dessen viele Cafés und Restaurants einst Treffpunkt waren für dunkle Gestalten, die berüchtigt waren für ihre Geschäfte mit Alkohol, Rauschgift, Waffen, Spionage und Prostitution.
Wir durchschlendern die engen, mit Geschäften gesäumten Gassen der Medina und gelangen bis hinauf zur Kasbah. Hier am Platz residierte einst die reiche Woolworth-Erbin Barbara Hutton, weltbekannt für ihre ausgelassenen Festivitäten, und gleich nebenan hatte Mick Jagger ein Haus bezogen. Leider ist das Musée de la Kasbah heute geschlossen, so bleiben uns die dort ausgestellten archäologischen Funde und die Volkskunstsammlung vorenthalten. Wir umrunden den ganzen Kasbah-Komplex, kommen vorbei an der Palast-Moschee, an der Königsresidenz und genießen den Blick von der Aussichtsterrasse beim Bab er Raha auf Meer und Hafen. Den Blick von hier oben fand auch Bernardo Bertolucci so faszinierend, dass er einige Szenen von Himmel über der Wüste an dieser Stelle drehte, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans, dessen Autor Paul Bowles noch heute in Tanger lebt.
Wir folgen dem Gassengewirr in Richtung des Haupttores Bab Fahs, verlassen die Medina und finden ein wenig Erholung im Menduabia-Park, wo mächtige achthundert Jahre alte Dragonierbäume Schatten spenden, und in dem sich ein heute als Handelsgericht genutzter Palast befindet. Vom Souk selbst waren wir ein bisschen enttäuscht; zwar wurden wir nicht wie befürchtet von Händlern bedrängt, doch versuchte man, uns Gewürze überteuert als „marokkanische Medizin“ anzudrehen,
Der christliche Friedhof, der an den Menduabia-Park angrenzt, wird gerade aufgelassen und umgestaltet. In einem kleinen Eckchen befindet sich ein Gedenkstein und einige Grabsteine Deutscher, die Ende des 19.Jahrhunderts hier während der Kaiser-Wilhelm-Zeit ihr Leben beschlossen haben, u. a. Kaufleute und ein Postdirektor.
Der nebenan liegende alte islamische Friedhof wird ebenfalls gerade saniert und teilweise aufgelassen. Hier befindet sich das Grabmal des berühmten Sohnes der Stadt, Ibn Battouta (1304-68), einer der großen Reisenden der Weltgeschichte. Zu einer Pilgerfahrt nach Mekka aufgebrochen, kam er erst 28 Jahren später wieder in seine Heimat zurück, unter anderem hatte er Ostafrika, die Krim-Halbinsel, Zentralasien, Indien und China bereist.
Der ganze Bereich um die Friedhöfe und um den Grand Socco ist eine einzige große Baustelle. Es wird planiert und gepflastert, was das Zeug hält, neue Marktstände werden errichtet und auch die Kunstschmiedewerkstätten erhalten ein neues Outfit. Seit es sich als Austragungsort für die Expo 2012 beworben hat, will Tanger sichtlich sein Schmuddel-Image loswerden. Ein Restchen des alten Souks hat sich weiter unten am Hafen erhalten. Zwischen engsten Bretterbuden wird alles verkauft, von rostigen Nägeln über selbst gebrannte CDs bis zur Unterwäsche. Oder soll’s vielleicht ein lebendes Huhn sein?
Über den Platz des Grand Socco mit seinem großen Springbrunnen und dem RIF-Kino schlendern wir wieder in Richtung Hafen. Es geht vorbei an der St.-Andrews-Church, an der Moschee Mohammed V. mit ihrem die ganze Stadt überragenden Minarett, bis wir zum Centre Artisanal mit seinen Kunsthandwerksstätten kommen.
Weiter geht es zur Galerie d’Arte, wo gerade Picasso-Keramiken ausgestellt sind.
Immer wieder stärken wir uns in den Cafés mit leckeren Süßigkeiten und dem unverzichtbaren Pfefferminztee. Langsam wird es Zeit, Geld zu wechseln; doch finden wir hier in der Neustadt keinen Automaten, der unsere EC- oder CC-Karte annimmt. Recht verzweifelt wechseln wir in einem Hotel etwas Bargeld in marokkanische Dirham. Für einen Euro bekommt man ungefähr elf Dirham.
Und kaum haben wir Geld in der Tasche, müssen wir uns sehr zurück halten, um nicht in einen Kaufrausch zu verfallen. An jeder Straßenecke werden sie hier angeboten, die nachgemachten Armbanduhren: für Damen in schicker gold-silber Ausführung von Gucci, mit Edelsteinen besetzt von Dior, oder für Herren die sportlichen Ferrari- und edlen Breitling Uhren, das Stück um zwölf Euro. Auch locken hübsch dekorierte Schaufensterauslagen zum Kauf von Prada- und Armani-Handtaschen, zu einem Bruchteil des Preises, der für die echten Edel-Accessoires zu berappen wäre.
Langsam werden die Geschäfte am Boulevard Pasteur weniger, dafür nehmen die schicken, modernen Wohn- und Geschäftshäuser sowie Hotels zu. Es wird viel gebaut hier in der Bucht von Tanger. Doch es gibt auch jene, die nicht von diesem Bauboom profitieren, wie einige zerlumpte Gestalten, die neben der Mülltonne eines Fünf-Sterne-Hotels sitzen und sich hastig Essensreste aus einer Plastiktüte in den Mund stopfen. Einer von ihnen lächelt uns an und ruft auf Deutsch „Willkommen in Marokko“. Es ist ihm sicher nicht bewusst, wie makaber dieser Willkommensgruß auf uns wirkt und ich muss unwillkürlich daran denken, was ich erst heute in einem Buch gelesen habe: es soll in der Medina von Tanger kaum noch Katzen geben, weil sie von den hier gestrandeten, schwarzafrikanischen Flüchtlingen aus purem Hunger geschlachtet werden.
Die Seepromenade entlang der Bucht von Tanger mit dem wunderbaren Sandstrand der bis zum Cap Malabata reicht und an die Copa Cabana erinnert, eignet sich vorzüglich für einen Abendspaziergang. Viele Menschen flanieren hier entlang, in einem großen Zelt, das am Strand aufgebaut ist, tritt eine arabische Musikgruppe auf, dazu gibt es vor der Skyline der Hochhäuser eine Laser- und Diashow. Im Sand trainiert eine Jungensportmannschaft für den nächsten Wettkampf. Es herrscht eine entspannt-ruhige Stimmung. An der neu und aufwändig gepflasterten Strandpromenade reiht sich eine Bar und ein Edel-Restaurant an das andere. Hier ist nicht nur die Küche französisch, italienisch oder spanisch, sondern auch die Preise muten europäisch an.
Doch man findet auch andere Restaurants, in der Nähe der einfacheren Hotels und am Hafen, in denen man ausgezeichnet marokkanisch essen kann und die auch für den kleinsten Geldbeutel erschwinglich sind. So zahlen wir für zwei große Vorspeisensalate, einen Fisch und ein Steak, jeweils mit Beilagen, und eine Flasche Wasser ganze 67 Dirham.
Auf dem Rückweg zu unserem Hotel entdecken wir eine Autogarage, von der ein Teil zu einem Gebetsraum umfunktioniert wurde: während stinkend und lärmend die Autos rangieren, rufen Männer auf den Knien liegend und die Gesichter zur Wand gerichteten im Diesellärm und Motorenqualm Allah an.
Natürlich sollte man sich in Tanger nicht entgehen lassen, das Café Hanfa unweit des Musée Forbes (Zinnsoldaten-Sammlung) zu besuchen. Von der lauschigen Terrasse des Cafés, in dem auch schon Jack Kerouac, Bill Burroughs und Paul Bowles Stammgäste waren, hat man einen herrlichen Blick auf die spanische Küste. Mir kommt der neue Roman von Tahar Ben Jolloun, VERLASSEN, in den Sinn, in dem er die Sehnsüchte einer jungen Generation von Marokkanern beschreibt, die ohne Zukunftsperspektive, umgeben von Korruption, Prostitution, Drogen und Arbeitslosigkeit nur von der Gelegenheit träumen, Marokko zu verlassen und in das nahe, vermeintlich bessere Europa zu flüchten, während sie ihren Kaffee – Spanien immer im Blick – trinken.
Tanger, auf arabisch Tanjah , hat uns auf Anhieb gefallen. Der schlechte Ruf, der dieser Stadt voraus eilt, hat sich uns nicht bestätigt. Lebendig, weltoffen und modern, aber durchaus nicht retortenhaft-kühl, könnte Tanger auch eine südeuropäische Hafenstadt sein. Es wurde und wird in dieser Stadt viel restauriert und saniert und vielleicht wird es gelingen, auch etwas von dem alten Flair wieder zu beleben, den Tanger als Tor zu Afrika und als internationale Stadt einst hatte.
Wir verlassen Tanger über das elegante Wohnviertel La Montagne, in dem sich auch der Gouverneurspalast befindet. Wir kommen vorbei an den in königlichen Besitz befindlichen Palästen der ehemaligen Sultane Moulay Abd el Aziz und MulayHafid sowie an exklusiven Golf- und Reitclubs.
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