Es geht wieder in die Berge. Der Bewuchs mit Argane-Bäume wird immer stärker, bis ganze Berghänge damit übersät sind, die grüne Sprengsel in dem ansonsten karstigen Gebiet bilden. Und jetzt tauchen sogar kleine Pinienwäldchen auf. Vermutlich wird hier kräftig aufgeforstet.
Bis Marrakesch sind es noch 165 Kilometer, bis Asni 120. Plötzlich schraubt sich die schmale, größtenteils unbefestigte Straße in steilsten Serpentinen nach oben. Es bieten sich grandiose Ausblicke in die Bergwelt des Hohen Atlas. Doch da sehen wir vor uns einen Lkw mit eingedrückter Fahrerkabine liegen, der über den Abhang 50 m hinab gestürzt ist. Leute, bestimmt aus den nahe liegenden Orten, sind schon am Unfallort und kraxeln zum Fahrzeug hinunter. Ob da noch zu helfen ist? Die weiteren Kurven nehmen wir jedenfalls mit allergrößter Vorsicht und die Lust auf einen Besuch in den Cafés, die mit ihrem Bellevue zu einer Rast auffordern, ist uns auch vergangen.
Auf der Höhe von 2100 m ist der Pass Tizi n’Test bezwungen und dann geht es in Serpentinen jenseits bergab. Die nahen Gipfel, unter anderem der Jebel Iguer mit seinen 3616 m, sind schneebedeckt. Die Felsen erstrahlen in erdbeerroten Tönen. Das Schild „ Lot de chasse de Mouflon a manchettes d’Iguer“ verweist auf die Mouflon-Jagd in diesem Gebiet.
Wir erreichen ein Hochtal voller Walnussbäume, in denen frische Bergquellen sprudeln, und nach weiterer Fahrt die almohadische Moschee von Tinmal aus dem 12. Jahrhundert. Von Tinmal aus wurde der Kampf für den „wahren Glauben“ geführt, der sich - geprägt durch christliche Anregungen - durch Zucht und Askese auszeichnete, und Tinmal war die Grabstätte des Ibn Toumert. So ist es nicht verwunderlich, dass an dieser Stelle 1153/54 die Almohaden diese große Moschee errichteten. Das Geschlecht der Almohaden herrschte von 1147 bis 1269 und brachte nach dem politischen Zerfall eine politische Neuordnung des gesamten Maghreb und auch Andalusiens zustande.
Wir besichtigen das imposante Bauwerk für 10 Dirham pro Person und lassen uns von dem Licht durchfluteten Innenraum mit seinen vielen Pfeilern beeindrucken.
In dem Ort Tleta n’Yacoub nehmen wir einen kleinen Mittagsimbiss aus Rührei und Salat, dazu gibt es den köstlichen, immer frisch gepressten Orangensaft, den wir vormittags, mittags und abends trinken und nach dem wir eine gewisse Sucht entwickelt haben.
Dann folgen wir weiter dem Flusstal bis zu dem Ort Ouirgane und beziehen Quartier in der wunderbaren, im Kolonialstil errichteten und von Franzosen geführten Auberge Au Sanglier qui Fume. Hier inmitten der Bergwelt tut sich eine romantische Oase auf mit einem großen, blühenden Garten und einem gepflegten Pool. Die Zimmer, es gibt auch Suiten, sind großzügig geschnitten und geschmackvoll ausgestattet. Und es funktioniert auch unser Handy wieder, für das unterwegs meist kein Empfang bestand.
Sonntagmittag war das Restaurant brechend voll mit Europäer aus Marrakesch, die ihr Wochenendausflug hierher führte. Zum Abendessen sind wir die einzigen Gäste bis auf ein junges marokkanisch-französisches Liebespaar. Wir freuen uns, dass wir noch die Gesellschaft von einigen Katzen haben, ach ja, und von einer Hündin, etwas dick und asthmatisch, die dem Duft unseres vorzüglichen Lammbratens einfach nicht widerstehen kann.
Nachts leidet Hellmut unter den gleichen Symptomen wie ich vor drei Tagen: Durchfall, Übelkeit, Gliederschmerzen, Schwäche. Ein Virus, das nun ihn erwischt hat? Nach etwas Tee zum Frühstück zieht er sich gleich wieder zurück, während ich zu einem Spaziergang ins Dorf aufbreche, im dortigen Kramerladen eine Tashine erstehe und viel fotografiere. Ein Bächlein fließt durch das ganze Dorf. Es soll hier auch eine Synagoge geben, doch die finde ich leider nicht. Im Jahre 1950 lebten noch 220.000 Juden in Marokko, doch durch die verstärkte Auswanderung nach Israel sind es heute nur noch circa 7000 Menschen jüdischen Glaubens.
Bei der Moschee bittet mich eine ältere Frau in ihr Haus zum Pfefferminztee. Die Wohnräume sind einfach eingerichtet, doch gibt es Fernsehen und Kühlschrank. Obwohl die Dame kein Französisch spricht, macht sie mir klar, dass sie Witwe ist und zwei halbwüchsige Kinder hat, von denen sie mir Fotos zeigt. Als ich ihr den Tee bezahle, nimmt sie die Dirham dankbar an.
Wenn es heißt, man soll in armen Ländern nicht so hohe Trinkgelder geben, um die Sitten nicht zu verderben, beschleicht mich immer das Gefühl, diese Ratschläge dienen einzig dazu, den eigenen Geiz zu tarnen. Meist kommen sie auch noch schulmeisterlich daher, mit dem Anspruch, den Leuten beibringen zu wollen, für Geld auch eine angemessene Leistung zu erbringen. Wie wenn die Menschen hier nicht schwer genug für ihren Lebensunterhalt arbeiten würden, sofern sie überhaupt die Chance haben, eine Arbeit zu finden. Zeugt es nicht von maßloser Selbstgerechtigkeit, wenn der Tourist, der es sich rundum gut gehen lässt, hier Urteile abgibt?
Es dauert doch ein paar Tage bis Hellmut sich wieder so weit auf dem Damm fühlt, dass wir in das noch 60 Kilometer entfernte Marrakesch aufbrechen können. Die Straße führt aus den Bergen hinaus, deren Gipfel angezuckert sind. Als wir mittags in Marrakesch eintreffen, ist es sehr heiß. Wir kämpfen uns durch den Großstadtverkehr mit Lieferwagen, Taxis, Radfahrern und Eselskarren ins Zentrum zum Hotel Foucauld, das ganz in der Nähe des berühmten Place Djemaa el Fna liegt.
Bei einem kleinen, ersten Stadtbummel landen wir in einem einfachen, aber sauberen und sehr gut besuchten Restaurant in einer kleinen Nebenstraße des Place Grande . Mit Brochettes, Gemüse-Kouskous und Getränken kommen wir auf 70 Dirham.
Um fünf Uhr können wir es nicht mehr erwarten und spazieren zum Place Djemaa el Fna. An diesem Platz befand sich einst die öffentliche Richtstätte und die präparierten Köpfe der Verurteilten wurden zur Schau gestellt. Jetzt ist es hier sehr heiß und noch wenig los. So guckt sich uns gleich ein Schlangenbeschwörer als Opfer aus. Zuerst wird mir die Kobra oder was immer das für eine Schlange sein mag, in die Hände gelegt, dann bekommt sie Hellmut um den Hals gehängt: Foto, Foto - dieser Punkt wäre abgehakt! Und wir streben gleich auf den nächsten Höhepunkt in Form eines Cafés zu, auf dessen Terrasse im ersten Stock wir ein Limo trinken und das Treiben auf demPlace Grande beobachtet und viele, viele, viele Fotos schießen.
Es dauert lange bis wir uns an dem bunten Treiben auf dem ocker-rosafarbenem Platz satt gesehen haben. Einheimische und Touristen schlendern über den Platz, um die Gaukler-, Akrobatik- und Musikgruppen zu bestaunen, an einem der vielen Stände frischen Orangensaft zu trinken oder sich an den aufgebauten Essensständen zu stärken. Es gibt Süßigkeitenhändler, Wasserverkäufer, Frauen, die eine Henna-Bemalung anbieten, Wahrsagerinnen und im Hintergrund leuchtet die Silhouette der Altstadt mit ihren Minaretten.
Als wir es endlich schaffen, unseren Blick loszureißen, machen wir uns auf den Weg in den Souk. Wir feilschen um ein schönes Lederhalsband für unseren Hund, bewundern die geschmackvollen Wasserbecken aus Messing, die schon für 80 € zu haben sind, die Keramikschalen und sonstigen Souvenirs und lassen uns von der reichen Auswahl an Oliven, die zu kunstvollen Pyramiden gehäuft sind, und vor allem von den satten Farben der Wollstränge im Wollsouk faszinieren. Den engen Gassen folgend erreichen wir die Ben Youssef Moschee aus dem Jahre 1120 und den Chrob-ou-Chouf-Brunnen.
Als Gründer Marrakeschs gilt Youssouf Ben Tachfin aus dem sunnitischen Almoraviden-Geschlecht, das von 1061 bis 1147 auch über Teile Nordafrikas und Andalusiens herrschte. Marrakesch wuchs ständig, Palmenhaine, Moscheen, Koranschulen, Krankenhäuser, ein Palast und die Stadtmauer von 9 km Länge und 6 bis 9 m Höhe entstanden. Unter anderen Berühmtheiten wirkten der Arzt Avenzoar aus Sevilla und der Philosoph und Mathematiker Avempace aus Zaragossahier. Zu dieser Zeit entstand auch die maurische Kunstform, eine Mischung aus arabischen, andalusischen und berberischen Stilelementen, und es entwickelte sich die Besonderheit der bis heute fortdauernden, maghrebinischen Kultur und Lebensart.
Auf dem Weg zum Hotel gehen wir an der Koutoubia Moschee aus dem 12. Jahrhundert vorbei, deren Minarett das Wahrzeichen der Stadt bildet. Daneben befindet sich dieKoubba der Lalla Zohra Bint el Kuch, das Grab einer als heilig verehrten Frau. Viele Marokkaner flanieren auf dem Platz vor der Moschee oder ruhen sich auf den Bänken aus. Wir gesellen uns zu ihnen, um die Abendstimmung zu genießen. Da setzt sich neben mich ein kleiner Junge, dessen Wangenknochen verformt sind und wie Höcker aus seinem Gesichtchen ragen. Zuerst bin ich etwas erschrocken, doch strahlt mich der kleine Bub so glücklich an, dass ich nicht umhin kann, ihn zu drücken. Seine Mutter und Großmutter sitzen ein Stück weit entfernt und lächeln mir ebenfalls zu. Allah sei mit ihnen!
Das Abendessen nehmen wir in unserem Hotel ein. Da wir bereits mittags gut gegessen haben, schaffen wir von dem großes Büffet nicht mehr so viel. Da besteht der Ober darauf, uns nur den halben Preis zu berechnen. Das Hotel verfügt über eine große Dachterrasse, die im Sommer als Restaurant dient, und auf der wir jetzt nachts ganz alleine sitzen und bei einem selbst mitgebrachtem Drink den Blick auf die nächtliche Stadt genießen. Vom Place Djemaa el Fna dringen die Geräusche herüber, direkt unter uns bieten die bunten Wasserverkäufer ihr Wasser an, das tatsächlich von den an der Bushaltestelle wartenden Menschen gekauft und getrunken wird. Es herrscht auf den Straßen immer noch ein reges Treiben und die Große Moschee ist hell beleuchtet. Ein wunderbarer Ausblick!
Um einen Überblick über die Stadt zu erhalten, leisten wir uns anderntags eine Stadtrundfahrt für 130 Dirham pro Person. Zuerst fährt der Bus durch die im modernen maurischen Stil errichteten Wohnviertel und wir sind beeindruckt, wie schick die Gegend hier ist, wie breit und mit wie viel Grün und Blumen die Avenuen geschmückt sind und welche Unmenge edler Hotels es hier gibt. Es fallen ebenfalls die hübschen Boutiquen, modernen Supermärkte und Reiseagenturen ins Auge. Der Ansager im Bus meint, Marokko sei für die Globalisierung gut gerüstet. Aus Gesprächen ergibt sich, dass der Begriff Globalisierung inzwischen auch in Marokko weitgehend negativ besetzt ist, und dass eine Öffnung der marokkanischen Märkte für ausländische Billigprodukte den Zusammenbruch des Kleinhandels und Kleinhandwerks bringen würde, was wiederum den Verfall der gesamten Medinas und Innenstädte nach sich ziehen könnte. Lidl, Wal Mart und daneben ein Anbieter für China-Schund in Marrakesch? Diese Vorstellung macht einen frösteln.
Die Stadtrundfahrt führt auch vorbei an dem Aguedal-Garten mit seinen Olivenplantagen und den Menara-Gärten mit ihren Obstbaumanpflanzungen und dem großen Wasserbecken.
Beim steinernen Bab Agnaoua, dem schönsten Tor von Marrakesch aus dem 12. Jahrhundert, der Zeit der Almohaden, unterbrechen wir die Stadtrundfahrt, um im Kasbah-Viertel zuerst die Saadier-Gräber zu besichtigen. Diese Nekropole aus der Zeit von 1554 bis 1667 ließ Moulay Ismail zumauern und erst 1917 wurde der Zugang wieder entdeckt. Die beiden Mausoleen sind mit feinsten Kachelmosaiken und Stockarbeiten geschmückt, viele weitere Gräber befinden sich im Hof der Grabanlage.
Dann gehen wir weiter zu den Überresten des Palais el Badi und zu den daran anschließenden Königspalast Dar el Makhzen, der auch heute noch als Königsresidenz dient und leider nicht besichtigt werden kann. Irgendwie verlieren wir uns anschließend in den verwinkelten Gassen. Ein ca. sechs-jähriger Stöpsel bringt uns wieder auf den richtigen Weg Richtung Koutoubia-Moschee.
Als wir voller Wehmut Marrakesch verlassen, sind wir sicher, soeben eine der faszinierendsten Städte der Welt besucht zu haben. Welch grandiose Leistung es gewesen sein muss, diese Stadt mit all den wunderschönen Gärten, Brunnen und Grünanlagen anzulegen und zu gestalten wird uns erst auf der Weiterfahrt Richtung Atlantikküste so richtig klar als ersichtlich wird, inmitten welcher Wüstenlandschaft diese Stadt geschaffen wurde.
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